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Otto Dix - 07.11.2010 - Sei menschlich, werde Maschine!
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Geschrieben von Andreas Torneberg   
Sonntag, 21. November 2010

Otto Dix - Gothic aus St. Petersburg. Die Band (Michael Draw: Texte, Gesang / Marie Slip: Keyboards, Komposition / Peter Voronov: Violine) wurde 2004 im fernen Osten Russlands, in Khabarovsk, zum Leben erweckt und gilt nach fünf CDs und unzähligen Konzerten als äußerst angesagt in der Szene. Die Musik ist reich an Ideen und elektronischer Orchestrierung. Doch ihren besonderen charakteristischen Klang erhält sie durch die ungewöhnliche und einzigartige Stimme und Prägnanz von Draw, der im Countertenor auf Russisch singt. Draw beantwortete diese Fragen und stellte uns freundlicherweise auch noch einige Fotos vom Videodreh eines Songs des nächsten Albums zur Verfügung. Alles sehr aufschlussreich...

     
Andreas:   Wieso habt ihr euch "Otto Dix" (nach dem expressionistischen, deutschen Maler, 1891-1969) genannt?
Draw: Als ich an der Universität studierte, hatten wir Vorlesungen über Kunst aus Deutschland; so erfuhr ich über Otto Dix. Ich war von seinen Bildern außerordentlich beeindruckt.
Andreas:   Eure Namen sind Künstlerpseudonyme. Was bedeutet Draw? Wie seid ihr auf "Marie Slip" gekommen? Ist Peter Voronov ein "normaler" Name?
Draw: So wurde ich von Partnern bei Rollenspielen genannt (lacht). "Draw" ist ein Fehldruck von "Drow" (Dunkelelf) und wird auch so ausgesprochen [‘drau]. Slip ist ein alter Spitzname. Keine Ahnung, was er bedeutet. Auch Slip selbst weiß es nicht mehr. Dazu hat er einen Namen einer Person genommen, die in einer seiner frühen Novellen “Das Alte Haus” vorkommt. Darin gibt es einen seltsamen Knaben, der Marie heißt; ausgesprochen wie [mar’i]. Peter wiederum hat nur seinen Nachnamen verändert. Er nahm an, dass "Voronov" besser zu uns passt ("voron" heißt Krähe).
Andreas:   Draw, hast Du diese Gesangsart "Countertenor" irgendwann mal studiert? Es gibt nicht so viele Menschen, die das können (außer nach einem langen Training). Was denkst Du selbst über diese außergewöhnliche Fähigkeit, so zu singen?
Draw: Ich habe zwei Jahre lang Gesangsunterricht genommen, es waren private Lektionen. Aber offen gesagt empfinde ich meine Stimme weit entfernt davon, perfekt zu sein. Ich wäre glücklich, wenn ich eine tiefere Stimme hätte. Meine "außergewöhnliche Fähigkeit" verursacht nur Probleme - die Leute sind einfach noch nicht bereit für diese Stimme (besonders in Russland nicht), und sie akzeptieren mich nicht in der richtigen Weise.
Andreas:   Habt ihr noch Verbindungen zu Khabarovsk, zum Beispiel Familie, die ihr vielleicht manchmal besucht?
Draw: Ich telefoniere manchmal mit meiner Mutter und mit meiner Großmutter. Slip besucht sehr selten seine Familie. Wie du weißt, ist Russland ein riesiges Land. Der Weg nach Khabarovsk ist sehr weit und nicht billig (mehr als sechs Stunden mit dem Flugzeug).
     
Andreas:   Im letzten Jahr seid ihr beim Wave-Gotik-Treffen in Leipzig aufgetreten; in diesem Jahr wart ihr bei der Castle Party in Bolkow dabei. Wie sind die Eindrücke? Ist die Szene im Westen eine andere als in Russland?
Draw: Oh, ja allerdings, In Europa ist die Schwarze Szene fast schon eine Art Mainstream. In Russland überhaupt nicht. Alles dreht sich da um Rock und Metal. Das Publikum ist auch anders: Es besteht üblicherweise aus sehr jungen Mädchen und zarten Jungs. Leider. Die Erwachsenen hören im allgemeinen so eine besondere Art von "russischen Chanson" und Pop Musik. Die Jugendlichen hören Metal, Punk-Rock und Alternative Rock. Und sie verhalten sich auch nicht so aristokratisch wie die Goths. Auf unseren Konzerten trifft man kaum "Headbangers"; unser Publikum ist unserem Style angepasst.
Andreas:   Im Westen weiß man sehr wenig generell über die Musikszene in Russland. Ist die Pop/Rock/Wave/Metal-Szene eurer Heimat vergleichbar mit der aus dem Westen?
Draw: Unglückseligerweise spielt die Musik eine sehr untergeordnete Rolle. Damit ist auch gemeint, dass die Leute den Stil aus dem Westen übernehmen und ihn nachahmen; oft eins zu eins. Vor einigen Jahren war beispielsweise die russische Gothic-Szene geradezu ein Klon der Bands aus dem Westen und alle russischen Gruppen sangen auf Englisch. So ein Unsinn! Die Situation hat sich jetzt etwas geändert. Otto Dix hat unsere Heimatsprache salonfähig gemacht (lacht).
Was die Popmusik angeht - sie ist einfach nicht so professionell wie im Westen. Wir haben keine lokalen Lady Gaga, Madonna oder Michael Jackson. Aber ein paar unserer Gruppen sind auch im Westen populär - Gorky Park zum Beispiel. Oder TATU. Sie hatten natürlich auf Englisch zu singen. Ich verstehe das nicht. Ich bin der Ansicht, wenn sich ein Sänger ausdrücken kann, dann sollte die eigene Sprache kein Problem darstellen.
Andreas:   Otto Dix repräsentiert ja auch einen Teil von "russischer Musik". Wenn wir aus dem Westen musikalisch an Russland denken, fallen Namen wie Chatschaturjan, Tschaikowsky oder der Donkosaken Chor. Wie stehst Du zu Musik aus Russland?
Draw: Ich bin kein musikalischer Patriot. :-) Ich mag Musik aus Deutschland, egal aus welcher Zeit. Aber Slip mag einige der russischen Rockbands.

   

Andreas:   Was magst Du besonders an Russland? Oder was findest Du schrecklich?
Draw:   Hm... Russland ist ein Land von enormen Gegensätzlichkeiten. Generell liebe ich mein Land, aber was ich wirklich hasse, ist Homophobie. Klar, dieses Problem existiert überall, aber in Russland ist es besonders heftig.
Andreas:   Wenn Geld keine Rolle spielen würde - würdest Du in St. Petersburg wohnen bleiben oder einen anderen Ort auf der Erde bevorzugen?
Draw:   Ich hätte gern Wohnungen in Berlin und in Ulm (eine sehr schöne Stadt). Außerdem ein kleines Holzhaus irgendwo in der Nähe der Alpen. Aber ich mag auch die Stadt, in der ich jetzt lebe - St. Petersburg. Vielleicht werde ich sie nie verlassen.
Andreas:   Wo würdest Du mal am liebsten ein Konzert geben? Und mit welchen anderen Musikern oder welcher Band würdest Du gerne zusammen die Bühne teilen (abgesehen von Seelenzorn)?
Draw:   Deutschland (lacht)! Und welche Band - Deine Lakaien!
Andreas:   Wie arbeitet ihr zusammen? Slip komponiert und Draw entwickelt dazu die Texte und den Gesang? Wie hat man sich das vorzustellen?
Draw:   Normalerweise arbeiten wir genau so, ja. Aber einige unserer Hits begannen erst mit der Lyrik, und Slip hat erst hinterher die Musik dazu komponiert. Beispielsweise "Beloved German" ist ein Gedicht von 2002 (geschrieben bevor es die Band gab), 2004 wurde es dann zu einem Lied.
Andreas:   In den Live Shows stellst Du verschiedene Rollen dar - es gibt den "Cyberroboter" oder den SM-Meister in Latex mit Peitsche. Was für Ideen stecken hinter den Rollen? Spiegeln sie vielleicht auch etwas aus Deinem Leben wider?
Draw:   Als ich ein kleiner Junge war, nannte mich meine Großmutter "Little heir Tutti" nach einer Gestalt aus "Three Fatsos" von Jury Olesha (1924). Tutti war ein Prinz, der keine lebendigen Freunde hatte, nur eine Puppe, die Kopie eines echten Mädchens. Meine weise Großmutter erkannte von Anfang an, wer in der Familie lebt - ein Prinz, der nur "Puppen"-Maschinen liebt. Wenn ich mal genug Geld haben sollte, werde ich mir einen Androiden kaufen. Weißt du, so einen wie die Japaner sie produzieren. Maschinen sind besser als Menschen. Und bezüglich des BDSM-Themas - naja... ich finde, das ist genauso wahr (lacht).
Andreas:   Auf YouTube findet man nicht nur diverse Videos von Otto Dix Shows, sondern auch Live-Mitschnitte, in denen die Lieder rein akustisch dargeboten werden. Was hat es mit diesen "Unplugged"-Sessions auf sich?
Draw:   Wir haben ein kleines Akustik-Programm in unserem Repertoire für große und "seriöse" Konzerthallen. Manchmal führen wir es auch vor dem elektronischen Teil auf. Die akustischen Songs wurden von Peter Voronov arrangiert.
     
Andreas:   Neben der Musik seid ihr ja auch noch anderweitig kreativ. Slip programmiert Spiele, Draw schreibt Bücher. Worum geht es dabei?
Draw:   Slip galt und gilt immer noch als ein berühmter Programmierer unter den Fans für alte Computer (Amiga, Spectrum etc.). Seine Spiele sind jetzt wie alte Galerien, nicht kommerziell. Aber er hat auch ein Spiel gemacht, das sich an eine meiner Novellen anlehnt. Jetzt gerade arbeitet er an einem neuen Spiel "Krieg der Tiere"; es ist recht humorvoll und geht um Krieg zwischen Ottern, Füchsen usw. Absolut kein Gothic-Thema (lacht).
Was meine Novellen angeht, so schreibe ich Geschichten im Cyber-Punk Genre. Kein purer Cyber-Punk. Ich beschreibe die Welt in einer weit entfernten Zukunft nach dem großen Staubkrieg. Typisch für solche Bücher. Aber meine Geschichten haben auch untypische Eigenschaften, dank derer sie im "Untergrund" verbleiben. Ich suche jetzt nach einem professionellen Literaturübersetzer, um meine Bücher auch im Ausland zu publizieren.
Andreas:   Zur Zeit arbeitet ihr gerade an einem neuen Album. Ist darüber schon etwas Neues bekannt zu geben, z.B. wann es erscheinen wird, wie es heißt etc.?
Draw:   Unser neues Album "Wundervolle Tage" wird im Dezember 2010 erscheinen. Es enthält 13 Kompositionen; das Hauptthema ist eine Art Techno-Buddhismus. Die Essenz davon lautet: "Perfekt zu werden und das Nirvana zu erreichen; ein Mensch sollte zu einer Maschine werden." Das Album steckt voller Kontraste, aber auf harmonische Weise so wie die Vereinigung der Gegensätze - Herz und Verstand, Mensch und Maschine.
Andreas:   Wenn Du Gott sein würdest (oder Satan), welche drei Dinge würdest Du gern in dieser Welt auf diesem Planeten verändern?
Draw:   Zuallererst würde ich den Sex vernichten. Ich meine das nicht im Sinn von "Liebe machen", sondern im Sinn von Geschlecht. Die größte Anzahl an Schwierigkeiten werden durch das Geschlecht verursacht, Beziehungen zwischen Menschen verschiedenen (oder gleichen) Geschlechts, Stereotypen beider Geschlechter, Diskriminierung, Sexismus, Feminismus, Homophobie usw. Wenn alle Menschen androgyn wären, wären sie Götter.
Als zweites und drittes würde ich den Schlaf und das Essen abschaffen - wir verlieren zuviel Zeit und Energie für Essen und Schlafen. Aber wenn alles so sein würde wie ich es gerade sagte, wären wir in einer vollkommen anderen Welt.
Andreas:   Vielen Dank für das Interview. Möchtest Du noch gern etwas zum Abschluss sagen?
Draw:   Ich möchte gern jedem wünschen, menschlich zu sein. In einem positiven Sinn dieses Wortes.
     
Autor: Andreas Torneberg
Photos: Otto Dix
     
Otto Dix @ LabelLos.de
Otto Dix @ myspace
     

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